Polly Clark: Tiger

Der Tag ist perfekt gestartet: Im kuscheligen Bett habe ich heute Morgen Tiger zu Ende gelesen, und angespornt von den wortgewaltigen, anschaulichen Schilderungen der verschneiten Taiga habe ich anschließend einen langen Spaziergang durch den Schnee gemacht – natürlich nicht so menschenleer und weit wie in Sibirien, aber immerhin mit erstaunlich unberührter Natur. Nun tauen meine Finger langsam wieder auf, sodass ich euch diesen Roman wärmstens ans Herz legen kann.

Es geht um Tiger, das dürfte angesichts des Titels keine große Überraschung sein. Aber nicht nur. Zuerst mal bekommen wir es mit Frieda zu tun, einem Menschen, einer Menschenfrau, genauer gesagt, und mit Bonobos. Doch das währt nicht lange, denn aufgrund einiger Vergehen muss Frieda das Forschungsprojekt verlassen und wechselt zu einem kleinen Zoo in Devon als Tierpflegerin. Ein Abstieg in Karrierefragen, aber für Friedas weiteren Weg entscheidend. Denn hier kann sie mit ihrem Fachwissen nicht nur das Leben der Menschenaffen verbessern, sondern trifft auch zum ersten Mal auf einen Tiger, für den demnächst eine neue Gefährtin eintreffen soll. Es ist schon alles arrangiert, nur versteht Frieda am Anfang gar nicht, was das alles mit ihr zu tun hat, warum alle sie immer so erwartungsvoll ansehen, wenn es um die Tiger geht. Doch auf die Erkenntnis folgt der Schock: Ausgerechnet sie soll sich um die neue Tigerin kümmern. Dabei hat sie doch gar keine Ahnung von Großkatzen, sie ist die Menschenaffen-Expertin! Sie fühlt sich von der ruhigen, ausgeklügelten Kommunikation der Affen angezogen, vom Matriarchat der Bonobos, nicht von der ungeschlachten Brutalität der Tiger, von deren Blutrausch, vor dem man sich immer in Acht nehmen muss. Doch schließlich siegt die Neugierde in Frieda, ein bisschen wissenschaftlicher Anspruch steckt vielleicht auch dahinter. Als die neue Tigerin, Luna, schließlich ankommt – in erbärmlichem Zustand, leider –, ist Frieda bereit.

Nun ist Frieda aber nicht der einzige Mensch, um den es hier geht. Wir begegnen auch Tomas, der unter der harten Hand seines Vaters Iwan in dessen Tigerreservat in Sibirien arbeitet. Das Leben so weit ab jeglicher „Zivilisation“ (ich meine hier so etwas wie Toiletten, Duschen, Heizung, Strom) ist hart, nur die Wenigsten halten das aus. Noch härter wird Tomas’ karges, einsames Leben durch Iwans Ehrgeiz, einen Regierungsvertreter einzuladen, ihm Tiger zu zeigen, damit endlich die dringend nötigen Fördergelder fließen, denn der Schutz der Tiger kostet Geld und die Nachbarn haben nur eins im Sinn: Felle zu Geld machen. Zu diesem Zweck soll Tomas sich in die Wildnis aufmachen, um neue Kamerafallen zu installieren und die Fährte der „Gräfin“ zu verfolgen, des größten Weibchens in der Gegend, welches das Revier des sogenannten Königs eingenommen hat. Tatsächlich findet er die Gräfin und ihre Jungen – zu seiner großen Überraschung aber auch noch etwas anderes …

Auch die Udehefrau Edit streift mit ihrer kleinen Tochter durch die Taiga. Seit die russischen Machthaber ihrem Volk den schamanischen Glauben verboten haben, ist in ihrem Dorf alles anders. Die Männer trinken und müssen russischen Jägern helfen, Tiger zu erlegen, obwohl das Töten eines Tigers als größtmögliches Verbrechen gilt. Denn Tiger sind genau wie Menschen nachtragend, und ihre Rache ist denen, die sich an ihnen vergehen, sicher, selbst aus dem Grab heraus. Und doch heiratet Edit einen solchen Mann, einen, der Tiger tötet, einen, der trinkt, einen, der sich von ihr nicht genug geliebt fühlt und sie dafür bestrafen will.

Die Leidenschaft, mit der Mann und Frau einander begehrten, war gefährlich. Sie zerstörte alles, jedes Gefühl, jedes Organ; sie zerfleischte sogar die Zeit selbst.

Also trifft Edit eine folgenschwere Entscheidung und verlässt mit ihrer neugeborenen Tochter das Dorf, um in Einklang mit der Natur mitten in der Taiga zu leben, so wie ihre Vorfahren. Doch so reich das Leben der zwei im Sommer ist, so hart ist es im Winter, voller Entbehrungen, voller Angst, voller Hunger. So kommt es, dass sich Edit mit einer Tigerin anlegen muss, um ihr eigenes Kind durchzubringen.

Polly Clark erzählt ihren Roman in mehreren Teilen, jeder ist einer Figur gewidmet, verbunden sind sie jedoch durch die Tigerin Luna, deren Leben hier quasi rückwärts läuft, vom Zoo in Devon, wo sie aufgepäppelt werden muss, über verschiedene illegale Tierhändler bis zu ihrer Geburt in der wilden, weiten Taiga. Jeder Abschnitt ihres Lebens ist mit einem der Menschen verbunden, die sich bemühen, das große Unrecht, das Luna angetan wurde, zumindest ansatzweise auszugleichen.

Der Autorin, die vor allem für ihre Lyrik bekannt ist und ausgezeichnet wurde, gelingt es meisterhaft, Zeit lebendig werden zu lassen. Immer wieder geht es darum, wie Tomas die Tigerfährten lesen kann, wie er ihnen in die Vergangenheit und in die Zukunft folgen kann, wie er erkennen kann, wo die Gräfin stehen blieb, wo sie schlief, wo sie jagte. Der Schnee macht die Zeit sichtbar, und Polly Clark schrieb sie in diesen Roman. Ihr Hintergrund als Lyrikerin erklärt auch die Wortgewalt von Tiger. Damit meine ich nicht nur Szenen, die beim Lesen glasklar vor meinem inneren Auge standen, sondern vor allem das punktgenaue Formulieren von menschlichen und tierischen Instinkten und Bedürfnissen, besonders in den Abschnitten, in denen wir tief in den Kopf der Tigerin eindringen. Die Autorin hat ein solch tiefgründiges und umfassendes Verständnis für die Tiere und ihre majestätische Erhabenheit entwickelt, dass dieses Buch nichts anderes als ein Schrein für Tiger ist, der seine Leser*innen ohne jede Frage mitreißen wird.

Clark arbeitete übrigens selbst in einem Zoo, wie ihre Protagonistin Frieda, und kam dort mit Tigern in Kontakt, lernte sie kennen und lieben und bestaunen, und reiste später nach Sibirien, um die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu erleben und zu lernen, ihre Fährten zu lesen. Im Guardian hieß es, dieser Roman sei ein Buch über das Artensterben, denn bekanntermaßen sind Tiger vom Aussterben bedroht, auch wenn sich die Putin-Regierung tatsächlich bemüht, die Tiere zu retten, was auch im Roman thematisiert wird. Und auch Bonobos sind eine gefährdete Art, nur leider kümmert sich niemand um deren Schutz, wie Clark betont.

Um also noch mal zum Anfang zurückzukommen: Ich lege euch die Lektüre dieses gewaltigen Romans ans Herz, weil hier einfach alles stimmt – und das findet man nun wirklich selten. Das Thema ist wichtig. Aber darüber hinaus bekommen die Leser*innen Einblicke in eine für die meisten völlig fremde Welt: Sibirien, Taiga, Tiger, ihre unglaubliche, elegante Effizienz in lebensfeindlicher Umgebung, und das auch noch in einer Sprache, die ebenso wunderschön und kraftvoll ist wie die Wesen, denen diese poetische Liebeserklärung gilt.

Über die Autorin: Polly Clark (* 1968 in Toronto) kam als Kind nach Großbritannien und lebt mittlerweile als Autorin und Lyrikerin in Schottland. Zwischendurch arbeitete sie unter anderem als Englischlehrerin in Ungarn und als Tierpflegerin im Zoo. Ihr erster Roman, Larchfield, gewann 2015 die Mslexia Women’s Novel Competition. Tiger stand 2019 auf der Shortlist für den Scottish National Book Award.

Über die Übersetzerin: Ursula C. Sturm studierte Übersetzen und Dolmetschen u. a. in London, Dublin und München und überträgt Romane sowie Jugend- und Sachliteratur ins Deutsche, darunter Das Gewicht eines Pianos von Chris Cander, Mr. Gandys große Reise von Alan Titchmarsh und Hotel Bolivia von Leo Spitzer. Ihre Übersetzung von Lore Segals Die dünne Schicht Geborgenheit wurde vom Österreichischen Ministerium für Unterricht und Kunst prämiert.

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