Auch in ihrem zweiten Roman beweist Rachel Elliott ihr besonderes Gespür für die menschliche Seele, für ihre Verletzungen, die einen Menschen über Jahrzehnte quälen können, aber auch für ihre Stärke.
In Bären füttern verboten gibt es keinen Charakter, der nicht mitgenommen ist, manche schwerer, manche leichter. Los geht es mit Sydney, die nach knapp vierzig Jahren an den Ort zurückkehrt, an dem ihre Mutter starb: St. Ives. Damals war sie noch ein kleines Mädchen, wild und ruhelos, und alles, was wir erfahren, ist, dass sie irgendwie in den Unfalltod der Mutter involviert war – was ihr Vater ihr insgeheim nicht verzeihen kann, denn Howard hat mit Ila seine große Liebe verloren und konnte sich nie wieder auf eine andere Frau einlassen.
In St. Ives wiederum gibt es Maria, die als junge Frau ebenfalls ihre große Liebe verlor, später aber Jon heiratete, den Vater ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter Belle. Jon ist ein Arschloch, das muss man so sagen. Er betrügt Maria nicht nur, sondern verachtet sie, übt subtile körperliche und psychische Gewalt aus, bis Maria vor ihrem eigenen Schatten Angst hat. Umso glücklicher ist sie, dass ihre Tochter auch mit Mitte zwanzig noch zu Hause wohnt, dass Belle keinerlei Ambitionen zeigt, etwas Größeres in ihrem Leben zu erreichen, als im lokalen Buchladen auszuhelfen und mit dem Schwein der Nachbarin Gassi zu gehen.
Sie hat sich ihr Leben so mit Oberflächlichem vollgepackt, dass darin kein Platz mehr für etwas Bedeutsames ist.
Während Sydney als Freerunnerin immer gehetzt ist, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen, versucht ihre Partnerin Ruth verzweifelt, Sydney festzuhalten, mal eine ruhige Stunde mit ihr zu verbringen. Doch selbst an ihrem Geburtstag ist das unmöglich, denn Sydney reist heimlich nach St. Ives ab. So ist Ruth dann auch völlig perplex, als sie einen Anruf aus dem Krankenhaus erhält: Sydney ist beim Freerunning von einem Dach gestürzt. Zusammen mit Howard reist Ruth nach St. Ives und trifft auf Maria, die Sydney schwer verletzt auf dem Bürgersteig gefunden und den Notruf gewählt hat. Von Mitgefühl getrieben, lädt Maria Ruth und Howard ein, bei ihr zu übernachten – und es entsteht eine Gruppendynamik, die das Leben aller Beteiligten verändert. Um nicht zu spoilern, belasse ich es dabei.
Was ebenso spannend wie die psychologisch ausgefeilten Charaktere ist (kein Wunder, Elliott ist hauptberuflich Psychotherapeutin), ist die Erzählstimme, die gern auch mal unmögliche Perspektiven einnimmt. Sie schlüpft nicht nur abwechselnd in die Haupt- und Nebenfiguren, sondern lässt auch Marias verliebten Wolfshund Stuart zu Wort kommen, die tote, aber immer noch sehr lebensfrohe und inspirierende Ila, Maria hält einen Mut machenden Dialog mit ihrem Tagebuch, es gibt Briefe, Listen und eingebildete Gespräche.
Bären füttern verboten ist in erster Linie ein menschlicher Roman, mit viel Verständnis für die vielgestaltigen Abgründe, mit denen ein*e jede*r konfrontiert ist. Man spürt beim Lesen den professionellen Hintergrund der Autorin, denn der Erzähler urteilt nicht, im Gegenteil, indem er in diverse Perspektiven schlüpft, macht er Mut, heitert auf, verschweigt aber die Härten des Lebens nicht. Etwa wenn die Frage gestellt wird, ob man auch nach vierzig Jahren noch um seine Frau trauern darf. Natürlich darf man, so die Antwort. Schiefer Blicke der Gesellschaft zum Trost – man darf! Alle Figuren müssen sich zurechtruckeln zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der Menschen, die sie lieben. Wie im wahren Leben also, nur etwas optimistischer.
Über die Autorin: Rachel Elliott (* 1972 in Suffolk, UK) arbeitet als Autorin und Psychotherapeutin in Bath. Ihr Debütroman Flüstern mit Megafon war für den Women’s Prize for Fiction nominiert.
Über die Übersetzerin: Claudia Feldmann (* 1966) studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt aus dem Englischen und Französischen. Unter anderem hat sie Eoin Colfer und Callan Rogers ins Deutsche übertragen.