Ali Smith: Winter

Für viele ist Weihnachten alles andere als das medial beschworene heimelige Familienfest – an sich keine Neuigkeit, aber wie Ali Smith in ihrem neuen Roman Winter eine entfremdete Familie an den Feiertagen aufeinanderprallen lässt, ist schon besonders. Aber auch das ist natürlich keine Neuigkeit. Typisch Smith halt.

Art denkt mit Grauen an Weihnachten, in drei Tagen erwartet seine Mutter ihn und seine Freundin Charlotte zum Fest. Das Problem: Charlotte hat mit ihm Schluss gemacht. Schlimmer noch: Charlotte ist so wütend auf ihn, dass sie seinen Twitter-Account gehackt hat und Nachrichten faked: Von seltenen Schmetterlings- und Vogelsichtungen ist die Rede, von Schneesturm in London, dabei haben sie elf Grad und Sonnenschein. Das wissen nur leider ausländische Medien nicht, die seinen Tweet sofort aufgreifen. In kurzer Zeit wird er das Gespött der ganzen Social-Media-Welt sein. All das darf seine Mutter natürlich nicht erfahren. In einer verzweifelten Kurzschlusshandlung fragt er ein Mädchen, das er an der Bushaltestelle trifft, ob sie als Charlotte mit ihm Weihnachten bei seiner Mutter verbringt. Und da wir uns in einem Roman (von Ali Smith) befinden, sagt sie Ja.

Es stellt sich heraus, dass das Mädchen namens Lux ein Glücksfall ist für Art und seine Mutter Sophia. Denn sie bringt genau das Interesse und das Mitgefühl auf, zu dem Mutter und Sohn nicht mehr fähig sind. Sophia ist einsam auf dem großen Landsitz mitten in der englischen Pampa. In einer riesigen Scheune modern alte Möbel vor sich hin, die Sophia früher verkauft hat, daneben steht ein Pappaufsteller von Arts Vater, einem ehemals berühmten Theaterdarsteller. Hier ist alles und jeder schrullig, aber nicht auf die warmherzige Art, sondern auf die deprimierende. Und so hat auch Sophia ihre Probleme: Sie mag nicht essen und sieht seit Neuestem einen körperlosen Kopf durch ihr Haus schweben, mit dem sie redet, für den sie sich verantwortlich fühlt, auch wenn sie weiß, dass er nicht real ist.

Zu allem Überfluss kommt auch noch Sophias Schwester Iris zu Besuch, mit der sie seit 20 Jahren kein Wort gewechselt hat. Nach einem Hilferuf von Art steht Iris bepackt mit Festtagsessen vor der Tür, um Sophia wieder aufzupäppeln. Neben all den Merkwürdigkeiten der Gegenwart geht es nun also auch noch an die Vergangenheitsbewältigung – eine weitere beliebte Weihnachtstradition! Während Sophia immer versucht hat, alles richtig, es allen recht zu machen, ist Iris die Ausgeflippte, die es mit Regeln nicht so genau nimmt und nach Sophias Meinung sogar den Vater ins Grab gebracht hat mit ihren Eskapaden.

Gut, dass die festlichen Streitigkeiten von einem Bus voller Menschen unterbrochen werden, der plötzlich vor dem Haus hält, darin etliche Vogelbeobachter, die einem mysteriösen Tweet gefolgt sind, laut dem hier vor der Küste ein seltener Vogel gesichtet wurde. Alle müssen mal fix zur Toilette, ein Tee wäre auch nicht schlecht, und klar, wenn es Plätzchen gibt … Im Gegenzug zeigt Sophie ihnen ihre Scheune voller Antiquitäten und wird die besten (= teuersten) Stücke noch los. Halleluja!

In Ali Smiths Romanen läuft nichts normal ab, sie bricht aufs Angenehmste mit Erwartungen. So ist auch ihre Sprache für mich jedes Mal aufs Neue eine Offenbarung an Kreativität. Meine Lieblingsszene: Während sie im Zug sitzen, um zu Sophia zu fahren, lernen Art und Lux sich kennen. Aber der Dialog plätschert nicht abwechselnd dahin, sondern erst steht Arts kompletter Redeanteil da, dann folgt der von Lux. Wer bei Art nicht aufgepasst hat, versteht auch Lux nicht. Wie eine kleine Prophezeiung wirkt dieser Dialog der anderen Art, denn auch im folgenden Geschehen greifen die zwei ineinander, Art mit seiner Andersartigkeit und unbewussten Bedürftigkeit und Lux mit ihrer scharfsinnigen Intelligenz und ihrer Antenne fürs (Zwischen-)Menschliche, ebenso anders wie Art, aber doch ganz anders.

Ali Smith ist eine der ganzen großen Sprachvirtuosinnen unserer Zeit, das beweist sie mit jedem Buch aufs Neue. Gut, dass auf Winter immer Frühling und Sommer folgen (Herbst ist bereits erschienen).

Zur Autorin: Ali Smith (* 1962 in Inverness, UK) war nach ihrem Studium Literaturdozentin in Cambridge. Wegen ihrer Erkrankung am Chronischen Erschöpfungssyndrom musste sie ihren Beruf aufgeben und widmet sich nun stattdessen ihrer eigenen Literatur. 2015 wurde sie zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Mit Herbst wurde sie 2017 zum vierten Mal für den Man Booker Prize nominiert (Shortlist).

(Rezensionen zu weiteren Romanen der Autorin findet ihr auf meinem alten Blog: Von Gleich zu Gleich und Es hätte mir genauso.)

Zur Übersetzerin: Silvia Morawetz (* 1954 in Gera) hat Anglistik, Amerikanistik und Germanistik studiert und überträgt neben Ali Smith auch Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton ins Deutsche.

 

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