Rebecca Makkai: Die Optimisten

Nach 615 Seiten, ein paar Taschentüchern und der einen oder anderen Tafel Schokolade kann ich sagen: Die Optimisten gehört nicht nur in jedes Bücherregal, sondern in den neuzeitlichen Literaturkanon!

Chicago, 1985. Yale und Charlie führen eine normale Beziehung, sie leben zusammen in einer Wohnung, gehen ihren Berufen nach, teilen Freud und Leid des Alltags – und doch ist bei ihnen nichts normal. Denn ihre Freunde sterben. Sie selbst sterben. Ein Wort ist in aller Munde: AIDS. Für die einen ist es nichts weiter als die gerechte Strafe für Perverse. Für die Politiker ist es vor allem ein Ärgernis. Für die Betroffenen ein Todesurteil. Hilfe gibt es kaum, nicht nur, weil keine wirksamen Medikamente und Behandlungen existieren, sondern auch, weil das gesellschaftliche Tabu so groß ist, dass sich das Pflegepersonal in Krankenhäusern weigert, die infizierten Patienten auch nur zu berühren. Das erste Todesopfer in Yales und Charlies Freundeskreis ist Nico, ein junger Mann, der neben seinen ignoranten Eltern seinen Partner Richard, einen aufstrebenden Kunstfotografen, und seine am Boden zerstörte Schwester Fiona zurücklässt. Es wäre Fionas Gelegenheit, frei zu sein, von vorn anzufangen, doch sie klammert sich an den viel älteren Freundeskreis ihres Bruders, vor allem an Yale, übernimmt mit nicht mal 20 Jahren Vormundschaften für andere Schwerkranke, deren Familien sich abgewandt haben, tritt für die Rechte von Homosexuellen ein, nimmt an teils gewalttätigen Demonstrationen teil.

Paris, 2015. Fiona kommt nach Frankreich, um ihre Tochter Claire zu suchen, die vor Jahren spurlos verschwand. Ein Internet-Video bringt Fiona nun auf die richtige Spur, und zusammen mit einem Privatdetektiv versucht sie, Claire ausfindig zu machen. Unterdessen schlüpft sie bei dem mittlerweile weltberühmten Fotografen Richard unter, dessen letzte große Ausstellung mit Bildern seiner langen Karriere kurz bevorsteht. Dankbar für die seelische Unterstützung durch ihren alten Freund, bedeutet das gleichzeitig, dass vergrabene Erinnerungen wach werden, schlecht verheilte Wunden aufgerissen werden.

Und dies ist ein Krieg, wirklich. Du bist seit sieben Jahren im Schützengraben. Und niemand wird das verstehen. Niemand wird dir ein Purple Heart dafür verleihen.

Das sagte Yale einst voraus, und nun muss Fiona feststellen, dass er recht hatte. Denn Fionas Ehe ist zerbrochen, die Beziehung zu ihrer Tochter war von jeher schwierig. Und Fiona muss sich fragen, ob das nicht mit ihrem Kampf im Schützengraben namens AIDS zu tun hat. Haben Nico, Yale, Charlie und all die anderen (unbeabsichtigt) so viel Kraft aus ihr herausgesaugt, dass es für ihre eigene Tochter nicht mehr gereicht hat? War ihr Herz immer mehr bei dem Kampf für die LGBT-Rechte und zu wenig bei ihrer Tochter?

Das ist die traurigste Sache der Welt, finde ich, das Scheitern der Liebe. Nicht der Hass, sondern das Scheitern der Liebe.

Die beiden Zeitebenen des Romans wechseln sich ab, zeigen Fiona an Yales Seite als junge, zerrissene, mutige und tatkräftige Frau und später als ältere, zerrissene, mutlose, aber immer noch tatkräftige Frau, die sich nicht in ihr Schicksal fügt, sondern um ihre Tochter kämpft, so wie sie einst für ihren Bruder und dessen – und ihre – Freunde kämpfte.

Die Optimisten ist ein gleichermaßen gewaltiger wie feinfühliger Roman. 1985 mag sich so weit weg anhören (da war ich noch nicht mal geboren), doch Rebecca Makkai entreißt diese Zeit der Vergangenheit und zeigt sie in einer Brisanz, die heutigen Nachrichten gar nicht unähnlich ist. Wenn derzeit fast überall auf der Welt Menschen auf die Straße gehen, um für #BlackLivesMatter zu demonstrieren, ist das nicht so viel anders als damals, als die Menschen ebenfalls gegen Ausgrenzung und für gleiche Rechte kämpften. An der Ignoranz zu vieler Politiker und der „Mitte“ der Gesellschaft sterben Menschen, damals wie heute.

Dumme Männer und ihre dumme Gewalt, die alles Gute kaputt machten, das je geschaffen worden war. Warum konnte man nicht einfach in Ruhe sein Leben leben, ohne über den Schwanz irgendeines Idioten zu stolpern?

Dabei darf man nicht vergessen, dass auch heute noch lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere, intersexuelle Menschen ausgegrenzt, bedroht, verletzt und getötet werden. Dafür müssen wir nicht mal den Blick schweifen lassen, das passiert auch in unserer Mitte. Ein Grund mehr, dieses Buch zu lesen.

Abgesehen von der Aktualität des Romans ist eine seiner größten Leistungen Makkais meisterhafte Figurenzeichnung. Während Yale – für mich das Herzstück dieses Romans – tief in unsere Seele eindringt, schafft Makkai es bei anderen Figuren, mit nur ein paar skizzenhaften Sätzen Charaktere mit all ihren Stärken und Schwächen zu entwerfen, die alle zusammen ein dichtes Netz ergeben, das die Handlung und uns Leser trägt.

Last but not least braucht Makkai keine großen Worte und keine großen Gesten, um die Tragik auf allen Ebenen des Romans zu vermitteln. Für dieses auch sprachliche Meisterwerk gebührt der Übersetzerin Bettina Abarbanell ebenfalls große Anerkennung.

Über die Autorin: Rebecca Makkai (* 1978 in Illinois, USA) lehrte nach ihrem Master-Abschluss an verschiedenen Hochschulen Kreatives Schreiben und verfasst selbst Romane und Kurzgeschichten. Die Optimisten ist ihr dritter Roman, der auf Anhieb auf der New-York-Times-Bestsellerliste, auf der Shortlist des Pulitzer Prize sowie des National Book Award landete und ihren internationalen Durchbruch bedeutete.

Über die Übersetzerin: Bettina Abarbanell (* 1961 in Hamburg) studierte in Tübingen und den USA. Sie übersetzt u. a. F. Scott Fitzgerald, Rachel Kushner und Jonathan Franzen ins Deutsche. 2014 erhielt sie den „Übersetzerpreis“ der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung und 2015 das Barthold-Heinrich-Brockes-Stipendium des Deutschen Übersetzungsfonds.

3 Gedanken zu “Rebecca Makkai: Die Optimisten

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