Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch

Der Untertitel ist der springende Punkt: „Alle Farben des Schnees“ ist das Tagebuch der Autorin während ihrer Anfangszeit in Sent. Mit ihrem Mann und ihrem jüngsten Sohn zog sie 2007 in das Unterengadin. Angefangen hatte alles mit einer Leidenschaft fürs Skifahren, sie fuhren ins touristisch damals noch nicht überlaufene Sent – und verliebten sich. Es folgte eine Ferienwohnung, und dann der Gedanke: Warum eigentlich nicht ganz dorthin ziehen? Gedacht – getan. Die zwei älteren, bereits zum Studium ausgezogenen Kinder blieben in Deutschland, der Jüngste, Matthias, wurde eingepackt und so ging es von Tübingen aus in die Schweiz.

Das Jetset-Leben der Akademikerfamilie Overath/Koch hat einen solchen Beschluss sicher begünstigt, sie sind es gewohnt, durch die Städte und Länder zu ziehen, journalistischen Aufträgen und Dozenturen zu folgen. Aber nun Sesshaftigkeit. In einer Kultur, die sehr traditionell ist. In einer Gemeinschaft, die sehr eingeschworen ist. In einer Umwelt, die sehr gefährlich ist. In Sent ist von September bis Juni Winter, Schnee in den Bergen liegt rund um die Uhr. Die Zuganbindung ist … nun ja, für moderne Menschen eher abenteuerlich, aber die Einwohner wissen sich zu helfen, mit Sammeltaxis, Nachbarschaftlichkeit, Freundlichkeit. Die Familie, vor allem der Sohn, findet schnell Anschluss, ist überrascht von der Kulturaufgeschlossenheit des kleinen Bergdorfs, es gibt regelmäßige Veranstaltungen mit Künstlern aus aller Welt. Einzige Hürde (zumindest eine von wenigen):  die Sprache. Es wird Romanisch gesprochen, genauer gesagt Vallader. Während sich alle nach und nach damit anfreunden, hat Angelika Overath Probleme mit der neuen Sprache, trotz Privatlehrerin.

Durchziehendes Thema des Tagebuchs: Was ist eigentlich Heimat? Ein Thema, das inmitten von globalen Flüchtlingsströmen kaum zu überschätzen ist. Die Antwort ist vielfältig und letztlich für jeden individuell. Für Overaths Tochter Silvia ist es das Smartphone. Aber kann auch ein Ort, an dem man erst seit Kurzem lebt, Heimat sein? Kann auch Sprache Heimat sein? Für eine Schriftstellerin durchaus eine wichtige Frage. Sie versucht, sich dem Romanischen durch spielerische Gedichte anzunähern – eine Methode, die für Overath viel besser klappt, als es im Alltag zu erlernen. Und mit jedem gelungenen Gedicht die Freude und der Stolz, sich im Fremden ein bisschen mehr eingerichtet, es ein bisschen mehr zum Eigenen gemacht zu haben.

Auch zum Konzept Heimat gehört die Angst vor Überfremdung – ein Thema, dem wir fast täglich in den Nachrichten begegnen. In Sent gibt es zunehmend Touristen, die nicht nur dort Urlaub machen und ihren Müll auf den Pisten „vergessen“, der dann im großen gemeinschaftlichen Bergputz beseitigt werden muss. Diese Menschen kaufen Grundstücke, um protzige moderne Architektur draufzusetzen, den Blick auf die Berge zu verbauen … und dann nur 3 Wochen im Jahr da zu sein. Die Frage, wann darf man das Alte, Hergebrachte schützen, wie lange muss man tolerant und offen sein?

Wie in all ihren Büchern ist Angelika Overath auch im Kleinen, in alltäglichen Episoden, die doch spannend wie ein Krimi sind, scharfsinnig, klug, offen und so bodenständig. Sie freut sich an ihren eigenen Beobachtungen, lässt offene Fragen zu, erzwingt keine Antworten, ist stolz darauf, wenn sie doch welche findet auf Fragen, die schwer zu beantworten sind. In ihren Erfolgen, aber gerade in ihrem Scheitern kommt sie uns Lesern als Erzählerin so nahe, dass man sich ihr und ihren Büchern schwer entziehen kann. So wie „Flughafenfische“ und „Sie dreht sich um“ einfach fantastische Literatur sind, lohnt sich auch dieses bescheidene kleine Tagebuch, wegen der angeschnittenen wichtigen Themen, aber auch wegen der großartigen Erzählerin Overath.

Über die Autorin: Angelika Overath (* 1957 in Karlsruhe) studierte Germanistik, Geschichte, Italianistik und Empirische Kulturwissenschaft. Sie promovierte 1986 und arbeitete anschließend drei Jahre lang als Autorin in Griechenland. Als Journalistin verfasste sie Reportagen und Essays für zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Magazine, etwa die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, GEO, mare, sowie für die Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung. Außerdem ist sie Dozentin an der Schweizer Journalistenschule MAZ.

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