Ein Buch, das einen sprachlos zurücklässt …
Cheryl lebt ein spartanisches Leben, das genau auf ihre Bedürfnisse als Mittvierziger-Single eingerichtet ist: In ihrem Haus herrscht penible Ordnung, weil alles Überflüssige entsorgt wurde, und kein Weg bleibt ungenutzt, um ihr Ordnungssystem aufrecht zu erhalten. Männer, selbst Freunde gibt es in ihrem Leben kaum. Nur einer lässt ihre Gefühle köcheln – Philipp, 20 Jahre älter als sie und alles andere als verliebt in Cheryl. Stattdessen möchte er ihren Segen, um mit einer sehr viel jüngeren Frau als Cheryl zusammen zu sein.
Als Clee, die Tochter ihrer Chefs, ungefragt bei ihr einzieht, wird Cheryls komplettes Leben auf den Kopf gestellt. Die junge Frau ist faul, übergriffig, aggressiv, vulgär, eine Sexbombe, unordentlich, hat Stinkefüße und schlechte Manieren … und doch berührt sie etwas in Cheryl. Cheryl, so scheint es, ist das perfekte Ventil für Clees Aggressionen und Clee wiederum für Cheryls Manien. Sie arrangieren ihr Leben umeinander herum, später immer mehr miteinander …
Ohne Frage, „Der erste fiese Typ“ ist ein außergewöhnliches Buch, das nicht rein über den Kopf funktioniert, sondern vor allem über die Gefühle. Miranda July schafft es, durch ausgefallene Situationen und Konstellationen direkt die Emotionen des Lesers anzusprechen. Beim Lesen spürt man regelrecht die Angespanntheit wachsen, die der Figuren und die eigenen. Bei jeder Konfliktlösung war ich selbst erleichtert, gemeinsam mit Cheryl war ich ratlos und verwirrt. Und das alles nicht, weil es dort steht, sondern weil man es einfach mit spürt. Gleichzeitig ist es ein Roman über Erwartungen. Hier läuft einfach alles aus dem Ruder, nichts ist, wie es scheint – und doch ist es am Ende gut.
Als Fan von Julys Kurzgeschichten hat es mich überrascht, wie anders sich ihr erster Roman liest. Er lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück, einerseits bin ich fasziniert von ihrer sprachlichen Virtuosität und selbst von der schrägen Figurenkonstellation angetan, andererseits hat mich dieses Buch furchtbar angestrengt. Dennoch gebe ich ein Leseempfehlung – man muss aber bereit sein, sich auf etwas Außergewöhnliches einzulassen.
Über die Autorin: Miranda July (* 1974 in Barre, Vermont) ist Filmemacherin, Regisseurin und Schriftstellerin. Ihre großartige Kurzgeschichten-Sammlung „Zehn Wahrheiten“ wurde mit dem Frank-O’Connor-Preis ausgezeichnet. Bei zwei Filmen („Ich und du und alle, die wir kennen“ (2005) und „The Future“ (2011)) war sie Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin in Personalunion. Sie lebt in L.A.
Über die Übersetzerin: Stefanie Jacobs (* 1981 in Bad Salzungen) studierte nach ihrer Banklehre Literaturübersetzung in Düsseldorf, war Fremdsprachenkorrespondentin in Paris und lebt heute als Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Wuppertal.
Pingback: Fazit 2016 und guten Rutsch | LiteraturZeit