Endlich legt sie nach!
Wieder hat Anna Enquist einen Roman geschrieben, der tief in die Seele eindringt und alle Emotionen durcheinanderwirbelt. Und wieder im Zentrum: Der Verlust derer, die man am meisten liebt, und der ganz persönliche Umgang damit.
In das Zentrum ihres neuen Romans „Streichquartett“ stellt Enquist vier Personen: ein Ehepaar, Carolien und Jochem, das seine zwei Söhne bei einem schweren Busunglück verlor. Außerdem Heleen, Kollegin und Freundin von Carolien, sowie Hugo. Au dessen Hausboot kommen die vier regelmäßig zusammen, um gemeinsam klassische Stücke zu spielen. Die Leidenschaft für ihr Streichquartett ist aber die einzige Gemeinsamkeit der vier Protagonisten. Während Carolien sich völlig in ihrer Trauer verliert und alles um sich herum vergisst, sammelt Jochem tief in sich drin Aggressivität gegen alle und jeden. Heleen versucht verzweifelt, nicht nur Carolien zu helfen, sondern gleich der ganzen Welt. Als gute Seele des Buches schreibt sie Briefe an Häftlinge, damit diese nicht so einsam sind. Dabei freundet sie sich jedoch mit dem Falschen an. Und Hugo ist ruhe- und ziellos. Seine Ehe ist gescheitert, seine Tochter sieht er nur unregelmäßig, seinen Job hat er gerade verloren. Jeder Einzelne von ihnen hält sich an der Musik fest und alle vier werden von der Musik zusammengehalten. Kenntnisreich und feinfühlig geht Enquist auf den Zauber der Musik ein.
Aber es ist nicht nur ein Buch über Verlust und Musik. Enquist gehört auch zu den sozialkritischsten Autorinnen der Niederlande. Scharfzüngig geht sie mit dem Kranken- und Rentensystem ins Gericht. Caroliens Mentor etwa, im hohen Alter, traut sich kaum vor die Tür, weil er befürchten muss, sofort in ein Hospiz, aus dem es keine Wiederkehr gibt, abtransportiert zu werden, wenn jemand seine Hilflosigkeit bemerkt. Und Carolien und Heleen als Ärztin und Krankenschwester sehen täglich, wie Alte aus dem System verschwinden, denen mit einem alternativen Pflegeprogramm leicht geholfen werden könnte. Auch das Justizsystem ist marode, mehr Schein als Sein. Kultursubventionen werden nach und nach gestrichen, bis klassische Musik für die neuen Generationen ein Fremdwort wird. Es ist offensichtlich, dass diese Probleme nicht nur in den Niederlanden existieren – bei uns in Deutschland ist es ähnlich.
Manchmal werden Dinge so groß und kompliziert, dass nur sehr kluge Köpfe noch daraus schlau werden. Aber solche Leuchten gehen nicht in die Politik, die befassen sich lieber mit theoretischer Physik oder Biochemie. Deshalb sind Leute mit eher beschränkten kognitiven Fähigkeiten am Ruder.
Klassisch angelegt und typisch bescheiden kommt „Streichquartett“ daher, doch es offenbart viele Facetten, ist intelligent, lehrreich und am Ende sogar überraschend rasant.
Über die Autorin: Anna Enquist (* 1945 in Amsterdam) ist ausgebildete Konzertpianistin und Psychoanalytikerin – in „Streichquartett“ bringt sie all ihre Talente und Interessen zusammen. Sie verlor ihre eigene Tochter bei einem Autounfall in Amsterdam, die Themen Verlust und Bewältigung finden seitdem Einzug in viele ihrer Romane. Seite 1991 ist sie hauptberufliche Autorin und wurde bereits mit verschiedenen Literaturreisen geehrt.
Über die Übersetzerin: Hanni Ehlers (* 1954 in Eutin) studierte Niederländisch, Englisch und Spanisch in Heidelberg. 2006 wurde sie mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet. Sie übersetzt beispielsweise Leon de Winter und John Vermeulen ins Deutsche.