Katja Kettu: Wildauge

Über Finnlands Rolle im Zweiten Weltkrieg ist wenig bekannt. Auch die Finnen selbst haben sich nie viel damit beschäftigt – doch nun beginnt die junge Schreibergeneration das Geschehene aufzuarbeiten, allen voran Katja Kettu mit ihrem martialischen Roman „Wildauge“.

Katja Kettu, Wildauge

Die Protagonistin in „Wildauge“ hat keinen Namen, von den meisten wird sie „Scheelauge“ genannt, von Mascha, dem Skoltmädchen aus dem Lager, „Wehmutter“ (altes Wort für Hebamme), von ihrem Geliebten „Wildauge“ – denn sie hat den intensiven, unerschrockenen Blick eines wilden Tieres. Die Dorfbewohner begegnen ihr mit gemischten Gefühlen, schließlich ist sie

… eine Hebamme von Gottes Gnaden. … Mir hat der Herr, der Allmächtige, in seiner Weisheit von allen Menschen der Welt die Fähigkeit verliehen, den einen Leben zu schenken und es anderen zu nehmen.

Wie die Geschehnisse zeigen, schreckt sie nicht davor zurück, diese Fähigkeiten – jawohl, beide – einzusetzen. Nachdem sie früh auf sich gestellt war, ging sie bei der Stadthebamme Aune in die Lehre, die ihr viel über Kräuter, Sprüche und Heilkunst beibrachte – fast schon schamanisch mutet das Wissen von Aune und Wildauge an.

Als sie nun dabei ist, Aunes Tochter bei einer schweren Geburt zu helfen, lernt sie den deutschen Fotografen Johannes Angelhurst kennen. Er ist sofort fasziniert von ihrem Blick voller Unschuld und Intensität – und auch Wildauge ist ihm sofort verfallen, doch nicht nur sie … Um bei ihm zu sein, lässt sie sich in das deutsche Gefangenenlager als Krankenschwester versetzen. Anfangs wird sie verschont: Sie untersucht Neuankömmlinge, verrichtet medizinische Eingriffe und kann in Johannes‘ Nähe sein. Das Skoltmädchen Mascha findet in ihr eine Ersatzmutter und so wird das Leben fast schon normal. Sie kann mit Johannes sogar ein paar Tage allein am Fjord des Toten Mannes verbringen – als Mitte Dreißigerin lernt sie hier erstmal die Liebe kennen und empfängt ein Kind von Johannes, das zu schützen sie mit allen Mitteln versuchen wird. Zurück im Lager, ändert sich die Lage. Wildauge wird in die Operation Kuhstall versetzt – dort muss sie Frauen mit allerlei Zeug impfen, um Versuche zu machen, sie muss die von den Männern des Lagers geschwängerten Frauen betreuen und deren Föten abtreiben – zunehmend ohne Mitgefühl. Doch ab und zu keimt die Verzweiflung auf, denn als Mascha zu bluten beginnt, muss auch sie in den Kuhstall. Johannes kann Wildauge nicht helfen, denn er ist schon tief in seine eigene Welt abgetaucht, dank der Droge Adolfin, die ihn fühllos werden lässt. Wildauge könnte fliehen, sie könnte Mascha und sich retten, doch das hieße, Johannes zu verlassen, was nicht in Frage kommt. Als der Krieg zwischen Finnland und Deutschland verkündet wird, wird Wildauge selbst zu einer Gefangenen und muss in den Kuhstall.

Bei der Räumung des Lagers kann Wildauge fliehen – am Fjord des Toten Mannes wartet sie auf Johannes, dort sollte ihr Treffpunkt sein, sollten sie je getrennt werden. Doch es vergehen Monate, selbst ihr Kind muss Wildauge allein austragen, bis Johannes endlich kommt.

In Wildauges Romanwelt einzutauchen ist beileibe kein Vergnügen. Kettus Sprache ist schonungslos, anarchisch, man wird zurückgeworfen in eine abgrundtiefe, tierische Welt, in der es um Schwänze geht, um Fotzen, um Paarung, um Vergewaltigung, um Kalben und Trächtigkeit, nicht um Liebe:

Aber erst jetzt habe ich gelernt, dass mich am Ende des Schwanzes nicht die Liebe erwartet, sondern Müdigkeit, Schmerz, verschiedene Entzündungskrankheiten, vom Morgen geläuterte Sehnsucht und ewige Schande. Der Krieg hat Macht über mich bekommen.

Kettu spricht in intensiven Metaphern, in sprachlichen Vergleichen, die ihresgleichen suchen und die den Leser auch nach der Lektüre nicht sofort loslassen. Es ist neben dieser unfassbar düsteren, mitreißenden Sprache die tragische Geschichte, die auch noch historischer Wirklichkeit entspricht, die diese Lektüre so unvergleichlich machen. Mitzuerleben, wie aus der unschuldigen Hebamme Wildauge, die nur das Beste für die gebärenden Frauen im Sinn hat, eine Kriegstreibende wird, die Föten aus den Gebärmuttern der Frauen herausreißt und alles tut, was man ihr sagt, aus purer Verzweiflung, bei ihrem Geliebten sein zu können – das nimmt den Leser stark mit. Schließlich erlebt man alles aus der Sicht von Wildauge und Johannes, da die Handlung in tagebuchförmigen Briefen geschrieben ist. Wildauge weiß selbst, wie falsch es ist, was sie tut, doch sie kann es nicht ändern.

Zur Autorin: Katja Kettu (* 1978 in Rovaniemi, Finnland) arbeitet als Schriftstellerin, Animatorin und Filmproduzentin. „Wildauge“ brachte ihr den literarischen Durchbruch, das Buch stieg sofort auf Platz 1 der Bestsellerlisten in Finnland auf und wurde mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt. Selbst eine Verfilmung des schweren Stoffes wird derzeit vorbereitet. Zu dem Roman wurde sie von den Tagebuchaufzeichnungen ihrer Großmutter inspiriert.

Zur Übersetzerin: Angela Plöger studierte Finnougristik und Slawistik in Berlin und Hamburg, wo sie 1973 promovierte. Sie übersetzt Belletristik, Dramen und Sachtexte aus dem Finnischen und Ungarischen und gilt heute als eine der renommiertesten Übersetzerinnen aus dem Finnischen. Sie sagt selbst über „Wildauge“, dass es eines der am schwersten zu übersetzenden Bücher ihrer langen Karriere war, aber auch eines der lohnendsten. Am Ende des Buches hat sie für den deutschen Leser nicht nur eine kleine Abhandlung über Finnland im Zweiten Weltkrieg zusammengestellt, sondern auch Begriffserklärungen, weiterführende Literatur und einige weitere Erläuterungen zur Sprache und Handlung von „Wildauge“. Nicht nur Katja Kettu kann für eine solche Übersetzerin dankbar sein, auch der Galiani Verlag und vor allem wir Leser.

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4 Gedanken zu “Katja Kettu: Wildauge

  1. Ein toller Beitrag. Dieser Roman ist eines meiner Lieblingsbücher diesen Jahres. Ich finde dennoch das es gerade um Liebe in einer so dunklen Zeit geht. Die schonungslose Sprache ist oft eines der Besten.

    • Hallo Gedankenlabyrintherin,
      schonungslos trifft es ziemlich genau. Definitiv ist es ein Literaturhighlight 2014, weil es so anders ist als alles andere – sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Gut, dass Finnland dieses Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, sonst hätten wir vielleicht gar keine Übersetzung davon bekommen. LG

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